Ich bin dabei, meine Koordinaten zu verlieren Bettina Tietjen las aus ihrem Werk „Unter Tränen gelacht“

30. Dezember 2023

Die Karten zu dieser besonderen Veranstaltung waren im Vorverkauf innerhalb kürzester Zeit sehr zur Überraschung des Hospizdienstes Walsrode im Kirchenkreis Walsrode restlos ausverkauft. Die Vorfreude war ihnen deutlich anzumerken, als die Koordinatorinnen des Ambulanten Hospizdienstes die Gäste in dem vollbesetzten und weihnachtlich geschmückten Gemeindehaus Walsrode in der zweiten Adventswoche anlässlich der Lesung mit der Moderatorin Bettina Tietjen, bekannt aus Fernsehen und Rundfunk über Norddeutschland hinweg, aus ihrem Buch„Unter Tränen gelacht - Mein Vater, die Demenz und ich“ begrüßten.

Wie es dazu kam, schilderte die stellvertretende Koordinatorin Eike Patzlee: „Zum 15jährigen Jubiläum - so lange gibt es uns schon dieses Jahr in dieser Form - wollten wir natürlich etwas Besonderes machen. Da kam uns die fixe Idee, wir schreiben einfach mal Frau Tietjen an und gucken, was passiert. Und die hat uns geantwortet. Damit hatten wir gar nicht gerechnet.“

Frau Tietjen wurde mit langem Applaus begrüßt. Sie kam gerade  aus Wolfenbüttel. Dort hatte sie auf Einladung des Hospizvereins Wolfenbüttel ebenfalls aus dem Buch gelesen. Scherzhaft erzählte sie: „Ich war noch nie in Wolfenbüttel – auch noch nie in Walsrode. Ich glaube, es war so eine nette Mail, dass ich dachte: "Ach ja, ich bin doch sowieso kurz vor Weihnachten in Wolfenbüttel  und dann mache ich das auch noch." Ja, so hat sich das ergeben. Ich nehme solche Termine gern wahr, um mich gemeinsam mit meinem Mann, der mich auf solchen kleinen Lesetouren begleitet, mal so ein bisschen umzugucken.“ Dann erzählt sie trotz leichter Erkältung frisch und gut gelaunt, wie sie die Tage dort verbracht hat, und zieht die Gäste schon in ihren Bann, bevor es dann zu dem doch ernsten Thema des Abends übergeht. „Eigentlich lese sie gar nicht mehr aus dem Buch, mache für Walsrode aber gern eine Ausnahme.“

„Sie schreiben über die Zeit mit Ihrem Vater und seiner fortschreitenden Demenzerkrankung, über Schwere, aber auch über besonders schöne Momente. Das ist wirklich eine ganz persönliche Geschichte. Warum ist es Ihnen wichtig, dass Menschen davon erfahren?“ fragte die Koordinatorin Ute Grünhagen nach. „Weil ich in den zweieinhalb Jahren, als mein Vater bei mir in Hamburg in einem Pflegeheim war und die Demenz fortschritt, festgestellt habe, dass das ein Thema ist, über das viele Menschen nicht so gerne sprechen, weil da viele Unsicherheiten und viele Ängste sind, oft auch Schuldgefühle, warum auch immer. Viele kommen mit dem Thema nicht so richtig raus. - erst dann, wenn sie erfahren: Ich bin gar nicht allein damit. Es gibt ganz viele andere, die das Problem auch kennen. Wenn man sich dann austauscht, dann ist das eine so große Hilfe und eine große Erleichterung. Es ist ein wichtiges Netzwerk, um zu wissen, an wen man sich wenden kann. Das haben wir damals alles auch nicht so gewusst. Mir ist erst durch das Buch klar geworden, wie wichtig das ist. Nicht ohne Grund habe ich acht Jahre nach Erscheinen immer noch ganz viele Anfragen, ob ich daraus lesen kann.“ führt Frau Tietjen aus.

Frau Tietjen hält für den Hospizdienst eine große Überraschung bereit: Sie verzichtet auf ihr Honorar und schenkt dem Hospizdienst diesen Abend. Die Koordinatorinnen freuen sich sehr darüber: „Das ist wirklich ein großes Geschenk. Da wir in unserer Arbeit immer wieder auf Spenden angewiesen sind, um Menschen gut und auch individuell begleiten zu können.“ und an die Gäste gerichtet: „Sie haben nicht nur eine Karte gekauft für diesen schönen und interessanten Abend, sondern Sie haben damit auch unsere Arbeit unterstützt und dafür möchten wir an dieser Stelle schon mal Danke sagen.“

Zu ihrem eigenen ehrenamtlichen Engagement führt Frau Tieten aus: „Ich bin ja seit zehn Jahren Schirmherrin des Hospizes Hamburg Süd vom Deutschen Roten Kreuz. Als ich gefragt wurde, ob ich die Schirmherrschaft übernehmen würde, habe ich erst überlegt: Will ich mich mit dem Thema Tod auseinandersetzen? Das habe ich zwar vorher auch schon gemacht, aber ich wusste ja nicht so genau, was damit verbunden ist. Dann kamen aber diese Nachbarschaftsproteste. Dieses Hospiz liegt in einer Wohngegend und es gab in dieser Straße Leute, die dagegen geklagt haben, weil sie nicht wollten, dass in ihrer Nachbarschaft gestorben wird, Wertminderung, Leichenwagen, keine Ahnung warum. Da habe ich mich so drüber aufgeregt, dass ich gesagt habe, das mache ich sofort und habe zugesagt. Das mit meinem Vater war eigentlich ganz unabhängig davon. Nur das hat sich dann irgendwie miteinander verzahnt. Demenz, Tod und die ganze Pflege hat ja sehr viel miteinander zu tun.“

Dann musste erstmal ein Selfie für Social Media gemacht werden. Frau Tietjen macht das auf ihren Lesungen immer selbst – ihren Kindern ist das „mega peinlich“.

Zur Entstehung des Buches erzählte sie: „Ich war bei Markus Lanz in der Talkshow - das ist nun schon ewig her - und habe am Rande über meinen Vater gesprochen und dabei erwähnt, dass wir so schöne Momente miteinander haben und mein Vater und ich trotz der Demenz so viel miteinander lachen. Nach der Sendung hat mich der Pieper Verlag angeschrieben und gefragt, ob ich mit diesen positiven Gedanken nicht ein Buch darüber schreiben möchte. Ich habe geantwortet, dass kann ich ja nicht, weil ich meine Zeit brauche, um mich mit meinem Vater zu beschäftigen. Als er verstorben war, habe ich mit meinen Schwestern so viel zurückgeblickt und überlegt und auch über das ganze Thema Demenz und Kommunikation darüber und Austausch besprochen. Da habe ich gedacht, vielleicht soll ich das Buch doch irgendwann schreiben. Mir war sehr wichtig, dass es heißt „Unter Tränen gelacht“, weil ich beides eben auch zeigen wollte. Es gibt im Zusammenhang mit der Demenz und überhaupt den Themen Alter und Pflege nicht nur schreckliche und faule Momente, sondern auch schöne Zeiten. Und das war so meine Botschaft. Es darf bei dieser Lesung auch gelacht werden, obwohl es um ein im Prinzip trauriges Thema geht. Ich merke immer noch, dass sich nicht so viel verändert hat, leider. Das Buch ist ja nun schon alt, mein Vater ist zehn Jahre tot, aber in der ganzen Zeit hat sich nicht so viel zum Besseren, was das Thema Demenz angeht, entwickelt, wie man es eigentlich gehofft hätte. Es wird zwar mehr darüber gesprochen, aber was die Hilfe, die Finanzierung, die Unterbringung und überhaupt das Bewusstsein dafür, was Demenz bedeutet, oder auch die Situation in den Krankenhäusern betrifft, hat sich nicht viel getan. Das finde ich sehr schade.
Durch dieses Buch bin ich mittlerweile Schirmherrin der Alzheimer-Gesellschaft Hannover und  Kuratorin der Deutschen Alzheimer-Stiftung, also bin ich schon im Thema drin. Was Heilung oder Forschung angeht, gibt es ja auch nicht so viel positive Neuigkeiten zu verkünden. Es ist also schon wichtig, dass man immer wieder dranbleibt und über dieses Thema spricht.“

Das anschaulich humorvolle Kapitel aus dem Buch, in dem es darum geht, welches Geschehen dazu geführt hat, dass Frau Tietjen ihren Vater nach Hamburg geholt hat, der in Wuppertal lebte, sorgte bei den Zuhörern für viel Heiterkeit, ließ aber auch die nachdenklichen Aspekte nicht außer Acht. So endet dieses Kapitel auch mit nachdenklichen Worten:

Was ich in diesem Moment noch nicht ahne, sein Umzug nach Hamburg wird mein Leben nicht nur sehr verändern, sondern auch bereichern. Wir werden eng zusammenrücken, mein Vater und ich, enger als jemals zuvor. Wir werden viel Spaß miteinander haben, aber mir steht auch eine große Herausforderung bevor. Meine Nerven werden starken Belastungsproben Stand halten müssen. Mein gewohnter Lebensrhythmus wird aus dem Takt geraten. Und auch für meine Familie wird es keine leichte Zeit werden. Ein neuer Abschnitt beginnt für zwei Jahre und sieben Monate.

Frau Tietjen teilte ihre Gedanken hierzu gern: „Meine Schwestern und ich hatten das natürlich lange vorher geahnt. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, um einen Elternteil ins Heim zu geben? Das macht man ja nicht gerne. Das muss vielleicht irgendwann mal passieren, aber eigentlich gewollt haben wir es nicht. Wir hatten uns vor vielen Jahren verschiedene Einrichtungen in Wuppertal angeguckt, weil wir meinen Vater eigentlich in seiner gewohnten Umgebung lassen wollten. Die Atmosphäre, die Gerüche, die Geräusche – das alles war für uns ja völlig neu – fanden wir ganz schlimm. Das wollten wir unserem Vater nicht antun und fanden eine Lösung mit einer Ganztagsbetreuung in seinen eigenen vier Wänden. Ich habe die Situation von Hamburg aus aber falsch eingeschätzt und mir war nicht klar, welchen Belastungen meine Schwester, die sich in Wuppertal um unseren Vater kümmert, ausgesetzt war.
Vielleicht sollte der Zwischenfall, den ich in dem Kapitel schildere, ein Wink des Himmels sein. Dieses Heim in Hamburg war Glücksache. Ich habe es von Anfang an als gut empfunden. Es war hell, freundlich, es roch nirgendwo nach Urin. Die Leute, die da arbeiteten, machten alle einen gut gelaunten und freundlichen Eindruck. Ich hatte gleich das Gefühl, dass mein Vater dort gut aufgehoben war. Aber trotzdem, als wir dann nach Hamburg kamen und ihn da abgeliefert haben, das ist natürlich nochmal was ganz anderes, als wenn man sich das theoretisch vorstellt.“

Mehr über den Einzug in das Heim erfuhren die Zuhörer aus einem weiteren Kapitel des Buches. Aber auch hier fehlen die Zweifel, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, nicht.

...jetzt packe ich erstmal deinen Koffer aus. Ich täusche gute Laune vor. Trotzdem bin ich irgendwie deprimiert. Das hier ist also jetzt dein Zuhause. 47 Jahre hast du in deinem Reihenhaus gewohnt, seit dem Tod meiner Mutter vor über 20 Jahren allein, mal abgesehen von dem Jahr mit Iveta und Anna, den beiden Lettinnen. 47 Jahre umgeben von den vertrauten Möbeln, den Bildern an den Wänden, die selbe Straße, den selben Garten, der selbe Blick aus dem Fenster – und jetzt diese Entwurzelung. Habe ich das richtig gemacht? Hätten wir uns nicht doch nach neuen Betreuerinnen umsehen müssen? Hätten wir möglicherweise mehrere Fachkräfte fest anstellen müssen, die 24 Stunden für ihn dagewesen wären? Das wäre allerdings finanziell kaum zu stemmen gewesen. Oder doch ein Heim im vertrauten Wuppertal.

„Mein Vater wurde ja in Wuppertal eine Zeit lang von zwei Lettinnen betreut und fing plötzlich an, nur noch gebrochenes Deutsch zu sprechen: ich müde, ich spaziere, ich hunger, ich aua. Das Verrückte ist, er hat selbst die zweieinhalb Jahre im Heim immer weiter so gesprochen. Ich habe mir irgendwann gedacht, der Mann kann so viel Fremdsprachen: griechisch, Latein, englisch, französisch, versuche es doch mal damit - und das funktionierte. Da konnte er ganz normale Sätze bilden, im Deutschen nicht. Wie das funktionierte, ist mir bis heute unklar.“ führte Frau Tietjen weiter aus.

Sie berichtet über ihren ersten Kauf von Windeln für Erwachsene, von ihren Unsicherheiten und den anfänglichen Peinlichkeiten. Es gab auch in dem Heim viele Situationen, an die sie sich gewöhnen musste, aber sie hat eben auch gelernt, wie cool das Personal damit umging, was sie dann auch gleich mit dem nächsten vorgelesenen Kapitel über den „Haufen im Kleiderschrank“ belegte. Dies nahm sie auch zum Anlass, die Zuhörer an ihren Erfahrungen zum dortigen Personal und zu den Situationen in Einrichtungen teilhaben zu lassen: „Diese Pflegerinnen und Pfleger, egal ob jung oder alt, weiblich oder männlich, ob sie schon lange da waren oder kurz, die meisten hatten so eine professionelle, aber immer herzlich Art und waren emotional zugewandt, haben sich immer mehr Zeit genommen, als auf dem Pflegeplan stand. Es ist ein Witz, wieviel Zeit die eigentlich haben durften. Seitdem ich diese Erfahrung machen konnte, habe ich so einen großen Respekt vor diesem Beruf, durch die Corona-Zeit natürlich noch viel mehr. Das kann man gar nicht hoch genug einschätzen, was da geleistet wird.“

Frau Tietjen bewegt sich in ihrem Buch bewusst auf zwei Ebenen, die damalige Gegenwart, also das Leben im Heim und die Demenz in der Zeit, in der ihr Vater in Hamburg war, und die Rückblenden, um zu beschreiben, wie alles anfing und wie ihre Familie damit umgegangen ist. Zur Verdeutlichung schildert sie im nächsten Kapitel aus ihrem Buch, wie sich die Demenz einschlich, sie es aber verdrängt haben und nicht wahr haben wollten.
Es gab so manche Merkwürdigkeiten, ob es nun das von Bettina Tietjens Vater verwaltete Garagenkonto, bei dem die Buchführung nicht mehr stimmte, oder die zahlreichen Haustürgeschäfte waren, zu denen er sich überreden ließ, von kistenweise Obst und Wein bis hin zum für das Reihenhaus überdimensionierten Hightech-Staubsauger.

Lange sei es ihrem Vater gelungen, die Defizite zu vertuschen, z. B. sprach er die Schwiegersöhne mit Herr Doktor an, wenn ihm die Namen nicht einfielen oder er in der Konversation Floskeln benutzte. Irgendwann machte es sich bemerkbar. Er versuchte, das noch unter Kontrolle zu behalten. Ihr Vater sagte dann manchmal Sachen wie: Ich bin dabei, meine Koordinaten zu verlieren. Oder manchmal bin ich mir gar nicht mehr im Klaren darüber, um wen es sich bei mir eigentlich handelt. Man habe gemerkt, dass er sich extrem damit auseinandergesetzte, wollte aber keine Hilfe. Er wollte auch das Wort „dement“ nicht hören, berichtete Frau Tietjen.

Eine Geschichte löste ein Raunen im Publikum aus: Frau Tietjen hatte ihren Vater, ausgestattet mit Handynummer und Adresse in der Jackentasche, in Hamburg in den Zug nach Wuppertal gesetzt. Sie sprach den Schaffner an: „Entschuldigung, mein Vater ist dement, wären Sie so nett und würden ein bisschen darauf achten, dass er auch in Wuppertal aussteigt.“ Der Schaffner antwortete: „Ist das mein Problem? Gucken Sie mal lieber, dass Sie aus dem Zug rauskommen.“ „Dieses unverschämte Verhalten zeigt, wie wenig Toleranz und Akzeptanz für Menschen, die ein bisschen anders ticken, in unserer Gesellschaft da ist“, bemerkt sie betrübt. Aber sie habe vieles im Laufe der Zeit gelernt, ob es nun Situationen im Restaurant, im Park oder sonstwo waren, in denen sich ihr Vater hemmungsloser benahm, sie ließ sich darauf ein, ging offen mit der Demenz um und erklärte es dem oft irritiertem Umfeld. Es geht allen besser, wenn man nicht mehr versucht, zu vertuschen - so ihre Erfahrung.

Frau Tietjen ließ die Gäste an verschiedenen Gegebenheiten teilhaben, wie z. B., wie ihr Vater damit umging, als ihm der Autoschlüssel entzogen wurde, weil es einfach nicht mehr ging. Jeden Morgen hatte er mit über 80 Jahren noch seine ehemalige Arbeitsstätte aufgesucht. Als die ohne Auto nicht mehr zu erreichen war, besorgte er sich von seiner Hausärztin regelmäßig eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. „Man muss zwischendurch schon zu einigen Tricks greifen“, bemerkte sie schmunzelt.

Im Laufe der Demenzerkrankung bleibt ein Besuch beim Neurologen meist nicht aus. Hiervon handelte der nächste Ausschnitt aus dem Buch. Es scheint ganz normal zu sein, dass die Betroffenen bei diesen ersten Arztbesuchen all ihre Kraft aufbringen, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Das mussten auch Frau Tietjen und ihre Schwester feststellen, denn ihr Vater schilderte seine Realität ganz anders als sie wirklich war. Ihre Fragen wurden ihnen von dem Arzt nicht ausreichend beantwortet, lediglich der Hinweis auf die Pflegeberatung. Zugewandheit und Verständnis ist an dieser Stelle wohl fehl am Platz.
Frau Tietjen machte sehr deutlich, dass allein der Kontakt zur Pflegeberatung nicht reicht, denn dort bekommt man in den meisten Fällen Auskünfte zu Themen wie: Beantragung von Pflegegeld, Pflegestufen, Hilfen für häusliche Betreuung usw. Sehr viel wichtiger sei es, sich mit anderen Betroffenen in Verbindung zu setzen. Sie rät heute jedem, Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe, der Alzheimergesellschaft oder einer anderen Iniative / Institution  aufzunehmen. Dort könne man sich austauschen, kann über seine Probleme und Sorgen reden, Fragen stellen, von Erfahrungen profitieren. Dieser Austausch kann sehr hilfreich sein, und sei es nur wie Frau Tietjen formuliert „auf Deutsch – um sich auszukotzen“.

„Die Angehörigen darf man ja nicht vergessen. Ich hatte manchmal das Gefühl, uns ging es schlechter als meinem Vater. Der war unbeschwert, hat seine alten Schulwitze erzählt und gelacht. Aber wir wussten nicht mehr, was wir machen sollen. Also da hätten wir uns mehr Hilfe holen sollen. Ich habe dann in den letzten zweieinhalb Jahren im Heim mit ihm ganz viel gelernt über dieses Thema und habe dann auch das, was ich vorher immer falsch gemacht hatte, allmählich richtig gemacht. Aber das ist natürlich ein Prozess. Man braucht nicht zu glauben, dass man das von Anfang an kann. Zehn Jahre waren es, in denen sich das entwickelt hat.“ mit diesen Worten möchte Frau Tietjen Mut machen.

Es sei schwer, anderen einen Ratschlag zu geben, wie man mit einem demenziell veränderten Menschen umgeht, weil jeder Fall anders ist. Ihr Vater war nicht aggressiv. Der war kindlich und wurde ganz emotional, obwohl er sein Leben lang immer ein total kopfgesteuerter Mensch war, sehr christlich, sehr fromm. Er hat schreckliche Kriegserlebnisse gehabt und hat das wohl durch eine extreme Selbstkontrolle kompensiert. Je dementer er wurde, um so emotioneller und hemmungsloser wurde er, so beschreibt Frau Tietjen ihren Vater. Es gab  viele Situationen, an die sie sich dann irgendwann aber gewöhnt habe. Aber das Schöne daran war, dass sie und ihr Vater auf eine andere Art und Weise ganz eng zusammenrückten, weil sie so den Moment miteinander teilen konnten und einfach nur im Jetzt seien konnten, erinnert sie sich.
Sie berichtet weiter, dass ihr Vater bis zuletzt noch Selbstporträts – immer von der Seite und immer abstrakter – gezeichnet hat und dann „Doofmann“ daneben geschrieben hat. Wenn sie ihn besucht hat, hat sie erstmal nur geguckt – auf Augenhöhe. Ist er gut drauf? Ist er schlecht drauf? Will er singen? Oder wollen wir vielleicht Gedichte von seinem Lieblingsdichter Morgenstern aufsagen oder Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,  oder einfach Musik hören. Manchmal hätten sie auch Stadt / Land / Fluss gespielt und dann hätte ihr Vater immer Städte und Länder erfunden oder sie haben Memory mit aufgedeckten Karten gespielt und dann hat er sich gefreut wie Bolle, wenn er zwei gleiche Karten gefunden hat.

Viele schöne Momente hätte sie mit ihrem Vater erlebt, aber jetzt wolle sie auch mal zu den etwas unschönen Seiten kommen. Das Buch heißt ja, unter Tränen gelacht. Was dann nicht so schön war, war, dass ihr Vater immer häufiger eine Aspirationspneumonie bekam. Er konnte nicht richtig schlucken und schluckte sich die Essensreste in die Lunge, bekam eine Lungenentzündung und musste ins Krankenhaus. Das Thema Krankenhaus und Demenz sei kein schönes Thema. „Du bist verloren als Mensch mit Demenz, wenn nicht immer einer daneben steht, der alles erklärt. Mein Vater wusste ja gar nicht, wo er war und wie ihm geschah. Deswegen habe ich immer versucht, das irgendwie zu vermeiden. Ich hatte immer das Gefühl, es ist ein Gegeneinander zwischen Pflegeheim und Krankenhaus. Warum arbeiten die nicht viel mehr zusammen? Man kann doch miteinander, beide wollen doch eigentlich was Gutes, aber es war immer nur eine Schuldzuweisung. Die Erlebnisse mit meinem Vater im Krankenhaus gehören nicht zu den schönen Erlebnissen, die ich hatte in der Demenz.“ erinnert sie sich.

„Ich habe mich am Anfang fürchterlich über das Krankenhauspersonal aufgeregt bis ich gemerkt habe, dass die das nicht aus bösem Willen tun, sondern weil die einfach mega gestresst sind. Ich bin immer sehr energisch aufgetreten und dann mussten die mir auch mal Auskunft erteilen, aber ganz viele hatten sich das ja gar nicht getraut. Diese Menschen waren dann hilflos, bekamen keine Auskunft, wussten gar nicht, was mit ihren Angehörigen ist, und sind dann ahnungslos wieder nach Hause gegangen.
Ich musste auch erstmal verinnerlichen, dass das Verständnis, was Demenz bedeutet,  bei ganz vielen Pflegern und Schwestern noch nicht da war. Die hatten einfach auch gar keine Zeit. Es hat sich, glaube ich, etwas verbessert. Mittlerweile gibt es auch mehr Fortbildung, ein bisschen anderen Umgang, aber die Personalsituation ist nach wie vor ganz schlimm.“ führt Frau Tietjen aus.  

„Nachdem mein Vater immer häufiger ins Krankenhaus musste, es ihm immer schlechter ging und er sich immer häufiger verschluckte - er dabei aber immer noch fröhlich und auch körperlich sehr beweglich war - nahmen wir den Vorschlag des Arztes, ihm eine Magensonde zu legen, an. Meine eine Schwester war dagegen. Sie hatte das Buch gelesen: Über das Sterben. Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen von Gian Domenico Borasiovon und meinte: „Du musst lernen, loszulassen. Man muss den Moment erkennen, wenn das Leben vorbei ist. Dann ist es eben so, dann kann der Vati nicht mehr essen und dann nimmt er kein Essen mehr zu sich und dann klingt das Leben aus.“ Meine andere Schwester und ich wollten das aber nicht. Unser Vater  wirkte noch so lebensfroh. Das können wir ihm doch nicht antun, wir können ihn doch nicht verhungern lassen. Daraufhin wurde die Magensonde gelegt. Damit ging es ihm zwei, drei Monate richtig gut, als hätte man ihm eine Lebensspitze verabreicht.
Dann ging es trotz Magensonde steil bergab. Man merkte ihm an, dass er ein Stadion erreicht hat, wo er auch nicht mehr wollte. Er wollte nicht mehr laufen und ganz vieles, was ihm vorher Spaß gemacht hat, wollte er auch nicht mehr - nur noch Gedichte von Christian Morgenstern und Bach hören. Und hier schließt sich der Kreis mit dem Thema Hospiz. Wir haben es dann geschafft, dass ein ambulantes Palliativbetreuungsteam zu ihm kam, dass dann gerufen wurde und er nicht mehr ins Krankenhaus musste. So konnte er dann in den letzten Wochen in seinem Zimmer sein und konnte wirklich friedlich sein Leben zu Ende bringen, wofür ich bis heute sehr, sehr dankbar bin.
Bei der Lesung gestern wurde ich interessanterweise gefragt, ob ich meinen Vater angemerkt habe, dass er wusste, dass er stirbt. Das habe ich ihm nicht angemerkt. Er hatte ganz wache Augen noch am Abend vorher. Und deswegen bin ich auch nicht auf die Idee gekommen, bei ihm zu bleiben. Aber er ist dann nachts eingeschlafen. Ich glaube, es war auch ein guter, ein friedlicher Tod und war auch ein guter Moment.“

Aber damit sollte der Abend nicht enden, sondern mit etwas Fröhlichem. Die Geschichte vom Plätzchenbacken – passend zur Vorweihnachtszeit - sollte zeigen, wie sehr sich seitens der Einrichtung Mühe gegeben wurde, eine Kommunikation zwischen der Welt draußen und der Welt da drin stattfinden zu lassen …. auch einer von diesen schönen Momenten.

Frau Tietjen beendet nach 90 kurzweiligen aber auch zum Nachdenken anregenden Minuten die Lesung mit den Worten:  „Weil ich das Buch so lange ja nicht mehr gelesen habe, abgesehen von gestern, hat es mir richtig Spaß gemacht, diese Geschichten wieder rauszuholen. Die werden auch verdrängt, wenn man mit anderen Dingen beschäftigt ist. Aber ich finde es richtig schön, über meinen Vater mal wieder zu erzählen. Er hat es auch verdient, dass man immer mal wieder über ihn berichtet. Also deswegen, eigentlich soll ich vielleicht doch mal öfter wieder lesen.“

Die Koordinatorin Ute Grünhagen bedankte sich bei Frau Tietjen für diesen persönlichen Einblick und das Teilen ihrer Erfahrungen, für das Lachen und auch Anrühren. Als Dank erhielt Frau Tietjen ein kleines regionales Köstlichkeitenpaket und einen Blumenstrauß…. Und natürlich einen langen Applaus.

Die Gäste hatten danach die Möglichkeit, noch ein wenig zu verweilen, am Büchertisch der Buchhandlung Kappe zu stöbern, in den Austausch zu gehen und einen Becher Glühwein mit oder ohne Alkohol bei Jan Findeisen vom Dat Tehus zu genießen. Frau Tietjen stand bereit, die gekauften Bücher zu signieren. Hiervon – und auch um ein gemeinsames Foto zu schießen – wurde reichlich Gebrauch gemacht.

Übersicht Aktuelles